Gedichtsreisender
Ludwig Laus
Lassen Sie sich vom Wortwitz dieses Sachbearbeiters der Lyrik verführen
Montag, den 18.06 2017
Gegen Mittag urplötzlich Liebe zur Lyrik entdeckt. Völlig neues Lebensgefühl.
Donnerstag, den 21.06.2017
Infolge nächtelanger Lektüre der Standardwerke von Goethe, Ringelnatz und Morgenstern wieder übermüdet im Büro erschienen. Frau Ruthemöller aus der Buchhaltung erkundigt sich, ob ich eine neue Freundin hätte. Ich verneine.
Freitag, den 22.06.2017
Gegen Mittag im Büro durch lautes Klopfen aufgewacht. Der Bilanzbuchhalter fragt nach der Akte Steinkamp, wir sind im Verzug. Habe Angst meine tägliche Büroarbeit nicht mehr zu schaffen. Zuhause wartet ein Frühwerk von Heinz Erhardt auf mich.
Dienstag, den 17.08.2017
Spontaner Vortrag einiger Gedichte von Robert Gernhardt vor den Abteilungs-Mitarbeitern gerät etwas holprig. Gelächter. Frage mich worüber: Über die Gedichte, über mich? Ermahnung des Abteilungsleiters wieder an die Schreibtische zurückzukehren.
Mittwoch, den 24.09. 2017
Termin beim Abteilungschef. Grund: Beschwerde meines Abteilungsleiters über meine derzeitige Arbeitshaltung.
Mir fehlt die Kraft zur Verteidigung. Muß dauernd an Rilkes „Panther“ denken. Bermerkung des Abteilungschefs, dass ihm mein Auftritt auf der Betriebsfeier gefallen habe, darf meine Arbeit aber nicht weiter vernachlässigen.
Freitag, den 12.10 2017
Trotz vielfacher Versuche gelingt es mir nicht, mich auf den Vorgang Krautmeier zu konzentrieren. Blättere stattdessen in einem Büchlein von Ernst Jandel, lese das Gedicht von „Lechts und Rings“, muss lachen. Darf keine Gedichte mehr mit ins Büro nehmen!
Dienstag, den 29.10.2017
Der Bilanzbuchhalter überrascht mich beim Rezitieren von Goethes „Mailied“ auf der Toilette. Peinliche Situation. Lade ihn später zu einem Kaffee ein. Er berichtet mir aus seiner Kindheit.
Donnerstag, den 08.11.2017
Bei der wöchentlichen Besprechung fallen meine Gedichtbände aus der Aktentasche. Niemand sagt etwas. Vorwurfsvoller Blick von Frau Ruthemöller. Mache wegen Kopfschmerzen schon um 14 Uhr Feierabend.
Montag. den 10.12.2017
Komme nach zweiwöchiger Krankheit erstmals wieder ins Büro. Unterkühlte Begrüßung. Versuche, einen Termin beim Abteilungschef zu bekommen, was scheitert.
Montag, den 17.12.2017
Im Briefkasten heute das Kündigungsschreiben des Abteilungschefs. Man bedauert den Zeitpunkt. Kurz vor Weihnachten. Beginne zum Trost das Gedicht „Advent“ von Loriot auswendig zu lernen.
Heiligabend 2017
Rezitiere zur Freude der Nachbarn kurz vor der Bescherung Loriot und Ringelnatz im Treppenhaus. Allgemeine Anerkennung. Nachbar Lehnbachs Begeisterung hält sich jedoch bei Loriot in Grenzen, er revanchiert sich mit der “Glocke”. Frau Müller, Parterre links, schläft dabei auf dem Treppenabsatz ein.
15.01.07–20.01.2018
Lege mir eine Bibliothek an und versuche in meinem Kopf Ordnung zu schaffen. Onkel Hans schreibt mir einen Brief, in dem er mich für vollkommen verrückt erklärt. Hilde, meine Pflegemutter, tut ihm leid.
13.02.2018
Rufe aus der Bibliothek meine Pflegemutter an, erinnere mich, dass sie vor zwei Wochen verstorben ist.
16.02.2018
Vier Uhr. Wache am Küchentisch auf. Verfasse ein Gedicht, schlafe auf dem Weg zur Toilette wieder ein.
So ein Tisch hat`s schwer
Das ist wirklich nicht fair
So sehr er sich plagt
Der Zweifel nagt
Er steht mit seinen Gefühlen
Immer zwischen den Stühlen
Und
Kümmert das bei Zeiten
Die Sitzgelegenheiten
Ne, die machen sich nichts draus
Und sitzen die Sache mal wieder aus
16.02.2018
Sechs Uhr. Lese das Gedicht am Fenster, muss mich setzen. Schreibe als Titel “Tischmanieren” über mein Werk.
Sommer 2018
Unternehme ausgedehnte Reisen nach Frankreich und Italien. Von Florenz beeindruckt.
Lerne zwischenzeitlich immer mehr Gedichte von Gernhardt, Gerhardt, Goethe, Ringelnatz, Morgenstern, Jandel und viele mehr.
Herbst 2018
Es gibt viele Gedichte. Überlege, welche ich auswendig lernen soll. Entscheide mich, alphabetisch vorzugehen.
01.01.2019
Beschließe, Gedichtreisender zu werden. Besorge mir strapazierfähiges Handgepäck. Nachbar Lehnbach wünscht mir Glück. Reise fortan durch die Republik und trage zu diversen Anlässen das Gelernte vor.